große Werkschau: „Empfangshalle empfängt…“

Vom 22.7. bis 1. Oktober 2023 in der Rathahausgalerie München (kuratiert von Nina Oswald) stellte Empfangshalle eine Reihe ihrer Werke als Künstlerduo vor sowie gemeinsame Arbeiten mit Künstler*innen aus dem Netzwerk und den Ateliers.

Die Künstler laden zum Austausch ein. So wird die Rathausgalerie zu den Veranstaltungen „Künstlerspeisung“ am 10. und 21. September im ganz wörtlichen Sinne zu einer „Empfangshalle“

Sonntag, 10. September 2023, 13 bis 15 Uhr (zum Open Art – Wochenende)
Donnerstag, 21.September 2023, 13 bis 14 Uhr

Im Rahmen der Ausstellung fanden zwei „Künstlerspeisungen“ statt. Dafür wurde eine große Tafel in der Mitte der Rathausgalerie errichtet, an der die Besucher*innen der Ausstellung, die Künstler*innen und andere Kooperationspartner*innen zu einem aussergewöhnlichen Mittagstisch luden.
Die „Speisungen“ von Empfangshalle haben sich in den letzten Jahren als eine besondere Form des künstlerischen Austausches etabliert. Ein Künstler oder eine Künstlerin kocht für das Netzwerk und Gäste. Dazu werden deren Arbeiten thematisiert, man speist zusammen und unterhält sich.
Die erste Veranstaltung fand zum Münchner Open Art-Wochenende statt.
Die Künstlerspeisung spiegelt das synergetische Netzwerk wider, das im Laufe der Zeit um die Empfangshalle entstanden ist.

Mit einladende Künstler*innen:
Anna McCarthy, Chaya Nouriani, Ergül Cengiz, Gabriela Mureb, Gabriele Obermair, Institut für kritische Verschwörungstheorie (IkV), Justin Urbach, Maria Justus, Moritz Altmann, Sandra Hauser, Stefan Holzmair, Susanne Beck, Thomas Adebahr
special guets: Bea Seggering, Via Lewandowsky

Empfangshalle empfängt die Stadt

Das erste Atelier von Corbinian Böhm und Michael Gruber Anfang der 2000er Jahre trug den Namen „Empfangshalle“. Es war eine leerstehende Halle der Bahn, in die sich das Duo eingemietet hatte. Einst für die Anlieferung von Batterien gebaut, die man für die Wartungsarbeiten an E-Lokomotiven benötigte. Zugig wäre ein Adjektiv, mit dem man die Arbeitsatmosphäre dort beschreiben könnte. Der Boden batteriesäuregetränkt. Der aufgewirbelte Staub macht ein Kratzen im Hals, vorbeifahrende Züge rütteln dergestalt alles durch, dass ständig der Bildschirm des Computers ausfällt.
Die Halle lag direkt an der breiten Gleislandschaft zwischen Hackerbrücke und Hauptbahnhof – nicht gerade verkehrsgünstig, wenn man jemand ist, der gern die Tore weit öffnet, weil man es auf Laufpublikum abgesehen hat.
„Lebensgefahr! Das Betreten der Gleise ist verboten!“
Dann muss es eben Sitzpublikum sein. Die S-Bahnen zwischen Pasing und Hauptbahnhof kutschieren hunderte von Menschen im Minutentakt an der Rampe vor dem Atelier vorbei. Die können gar nicht nicht hinschauen, wenn das Duo dort seine Skulpturen in Szene setzt. Dabei ist nichts in Stein gemeißelt, wie man es bei zwei Bildhauern vielleicht annehmen könnte, nein … Schon früh in der Karriere des Duos, das sich fortan Empfangshalle nannte, weil es ihnen immer auch um das Öffnen von Räumen für andere Künstler*innen ging, spielten theatrale Skulpturen eine tragende Rolle. In der mit Video dokumentierten Arbeit „3 Sekunden“ (2000) etwa meißelten sie sich in die Netzhaut der zufällig vorbeifahrenden Passagiere, indem sie hochdramatische, extrem komprimierte Szenen auf der Rampe ihres Ateliers aufführten, ohne Anfang und Ende, und doch flüchtig wie ein Blick aus dem Zugabteil auf einen Bahnsteig, an dem kein Halt vorgesehen ist: Ein Mann zieht einen brennenden Einkaufswagen hinter sich her; einer schlägt einem anderen einen Strauß roter Rosen ins Gesicht; zwei vermummte Gestalten gießen eine vielleicht ätzende Flüssigkeit aus Kanistern ins Gleisbett; ein Handwerker im Blaumann scheint von der Leiter gestürzt zu sein, ein Mann dreht eine gefesselte Person, der ein Sack über den Kopf gezogen ist, auf einem Bürostuhl schwindlig …
Soll man um Hilfe rufen? Die Polizei verständigen? Die Notbremse ziehen? Bin ich etwa der Einzige, dem das aufgefallen ist? Habe ich etwa geträumt? Soll ich die Schweigekonvention im Pendlerverkehr brechen?
Es handelt sich um Publikumspiraterie. Das Kapern der Gedanken. Ein Spiel mit dem fahrplanmäßigen Zufall, der den Alltag eines jeden Menschen bestimmt, wenn man in einer Großstadt den Fuß vor die Tür setzt. Der Versuch der Berührung und Aufrüttelung über das Gleisbett hinweg, durch die Trennscheibe hindurch. Vorsicht, das Leben ist mit Gefahren verbunden. Ein rätselhafter, unheimlicher Gedanke hat sich heimlich eingerichtet in meinem Kopf.
Flüchtigkeit und doch ein hartnäckiges Sich-Festkrallen bestimmen auch die konkreten Arbeitsbedingungen von Empfangshalle, denn seit Anfang der 2000er sind sie Ateliernomaden geblieben – gezwungenermaßen, muss man in dieser Stadt, der sie aber trotzdem nie den Rücken gekehrt haben, hinzufügen. Wobei man in manchen dieser Atelierzwischenstationen vielleicht auch gar nicht sesshaft werden wollte. Nach der Halle im Gleisbett kam ein alter Holzstadel in der Geyerstraße, das ehemalige Lager einer ehemaligen Schreinerei. Zugig, kalt und feucht blieb es da, direkt am Westermühlbach, in den man durch einen auf Hüfthöhe in einem Astloch der Rückwand steckenden Trichter pinkeln konnte.
Eine weitaus bessere Arbeitsatmosphäre fand Empfangshalle ca. ein Jahr später vor, als sie 2003 in ein Atelier in der Nähe des Elisabethplatzes im Herzen von Schwabing zogen, wobei auch hier klar war, dass die Nutzung nicht von Dauer sein wird, denn auf dem Areal sollten Wohngebäude entstehen. Wann genau das passieren würde, stand beim Einzug noch nicht fest. Böhm und Gruber freilich wäre es am liebsten gewesen, wenn sie dauerhaft hätten bleiben können, denn das Atelier, das sich im Gebäude
des Umspannwerks der Stadtwerke München befand, bot neben einem Lager, einer Werkstatt und einer geräumigen Büroetage auch noch einen großen Innenhof mit viel Freiraum. Räumlich besehen, waren das ideale Bedingungen für künstlerisches Arbeiten, zeitlich besehen, hing von Anfang an das Damoklesschwert der Zwischennutzung über den Künstlern, die sich über die Dauer von zehn Jahren von Verlängerung zu Verlängerung hangeln mussten. Während dieses rückblickend betrachtet langen Zeitraums machte das Duo seinem Namen alle Ehre, indem es immer neue Kreative in den Räumen empfing. Rund um Empfangshalle entstand so über die Jahre eine wirkliche Ateliergemeinschaft, zu der auch Künstler*innen aus anderen Sparten gehörten, von Performance- und Installationskunst über Dokumentarfilm bis hin zu einer Punkband. Man nutzte gegenseitig die künstlerische Expertise der anderen und unterstützte sich bei diversen Projekten, sodass sich nicht nur Synergie-Effekte ergaben, sondern auch Freundschaften entstanden. Empfangshalle selbst arbeitete zum Beispiel häufig und eng mit dem Regisseur und Filmemacher Thomas Adebahr zusammen, um so diverse Kunst- und Filmprojekte zu verwirklichen. Eines dieser Projekte ist die Arbeit „Woher Kollege Wohin Kollege“ – ein mehrjähriges Kunstprojekt im öffentlichen Raum, das im Rahmen von QUIVID entstanden ist, dem Kunst-am-Bau- Programm der Landeshauptstadt München. Zu dieser Arbeit wurde auch ein gleichnamiger, 80-minütiger Dokumentarfilm von Thomas Adebahr und Andrea Zimmermann produziert, der für den Civis-Preis 2004 nominiert wurde.
Vielleicht war es die Tatsache, dass man selbst als Künstlerkollektiv bisher nicht heimisch werden konnte in München, das Empfangshalle in dieser Arbeit „Woher Kollege Wohin Kollege“ von 2003 bis 2006 nach der Heimat fragen ließ, und zwar Menschen, die sonst kaum im Fokus stehen: Männer, die in der Stadt die Mülltonnen leeren. Ihnen wurde ein von Empfangshalle aufwändig zu einem Wohnmobil umgebautes Müllauto zur Verfügung gestellt, mit dem sie sich – einer nach dem anderen – auf den Weg machen konnten, um ihr ganz persönliches Heimatgefühl zu fotografieren. Ein einziges Foto, auf dem der Müllwagen zu sehen sein musste, sollten sie auswählen. Darauf war das abgebildet, was ihrem Gefühl von Heimat am nächsten kam. Ein Mann fuhr nach Akçay in der Türkei, ein anderer bis nach Ghana in das Dorf, wo er geboren wurde, ein dritter lenkte den orangenen LKW nur bis nach München- Neuperlach, wo er wahrscheinlich weniger aus dem Rahmen fiel als vor einer Kulisse aus Palmen. Nach der Rückkehr der Fahrer brachte Empfangshalle dieses Heimatbild großformatig an den Müllwagen an, mit dem der jeweilige Fahrer tatsächlich jeden Tag seine Runden durch München drehte. Eine fahrende Ausstellung durch die Stadt, bei der erneut das Publikum nicht wusste, dass es ein Publikum war – doch der kleine Moment der Konfusion, dass da keine Werbung hing, sondern ein Bild von einem der Arbeiter, stiftete immer wieder Anlässe, um mit Passant*innen in Kontakt zu treten, sodass die Fahrer unversehens in die Rolle des Kunstvermittlers schlüpften, das Konzept erklärten und von ihrer Reise und ihrem Heimatbegriff erzählten.
Irritation, das Nicht-Museale, die Analyse der vorhandenen Strukturen unter Einbeziehung des öffentlichen Raums und der darin sich aufhaltenden Öffentlichkeit sind charakteristisch für die künstlerische Praxis von Empfangshalle, die sich selbst immer wieder an neue Bedingungen anpassen musste und dabei in ihren jeweiligen Atelierkomplexen stets verbündete Künstler*innen um sich scharte. Denn Kunst und Kreativität gehen für Böhm und Gruber weit über die reine Produktion von Artefakten hinaus. Es sind die gesellschaftlichen Strukturen selbst, die das bildhauerische Rohmaterial darstellen für die Kunst von Empfangshalle. Ihr ist zwingend eine soziale Komponente eingeschrieben, sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption – als Anstoß für weitere ästhetische Erfahrungen im Alltag der Menschen, die meist zufällig zum Kunstpublikum werden.
Ganz so viel Zufall wie sonst üblich ist jedoch beim mehrgliedrigen Kunst-am-Bau-Projekt „Hinterm Horizont“ nicht im Spiel – und wenn man gefragt werden würde, ob man zum hauptsächlichen Publikum dieser Kunst-Intervention gehören wolle, würde man wohl dankend ablehnen. Das 2013 fertiggestellte Werk befindet sich nämlich in einem Berliner Gefängnis, und zwar in der Justizvollzugsanstalt Heidering, für die vom Berliner Senat ein Wettbewerb ausgeschrieben wurde, den Empfangshalle gewann.
Der erste Teil der Arbeit steht im Außenbereich der JVA und ist weithin sichtbar, da es sich um eine 30 m hohe, graue Vertikal- Windkraftanlage handelt. Doch auch bei diesem funktionalen Teil der Arbeit gibt es ein ästhetisches Irritationsmoment in Form einer überlebensgroßen, goldenen Figur eines Mannes, die auf der Spitze der Anlage angebracht ist und sich also pirouettenhaft um die eigene Achse dreht, wenn der Wind weht. Die Figur steht dabei aufrecht und hält sich die linke Hand über die Augen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden, während ihr Blick in die Ferne schweift.
Der zweite Teil des Werks, eine Fotoinstallation, ist im für Besucher*innen offenen Bereich des Gebäudekomplexes verteilt und besteht aus sieben, von der Decke hängenden Hohlzylindern. Auf der Innenseite eines jeden Zylinders befindet sich eine 360°-Panoramaaufnahme, die mit einer Spezialkamera aus dem Blickwinkel der Figur von der rotierenden Spitze der Windkraftanlage aus aufgenommen wurde. Die einzelnen Bilder entstanden im Verlauf eines Jahres und zeigen die Landschaft rund um die JVA in der Jahreszeitenabfolge. Immer dieselbe Landschaft erscheint so je nach Wetterlage und Lichtverhältnissen in ganz unterschiedlichen Farben und Stimmungen. Hinzu kommen noch die wechselnden Windgeschwindigkeiten, die an den Aufnahmetagen jeweils geherrscht haben und die zum Teil zu deutlichen „Verwehungen“ auf den ansonsten gestochen scharfen Fotografien geführt haben. Beim Betrachten der Aufnahmen vollführt man nun unweigerlich im Zentrum des Zylinders dieselbe Drehung um die eigene Längsachse wie die Skulptur auf dem Windrad, womit man teilhat an einem hintersinnigen Spiel aus Arretierung und Bewegung, das dem dritten, unsichtbaren, dafür jedoch umso wirkmächtigeren Teil der Arbeit zugrunde liegt. Empfangshalle setzt stets bei den konkreten Gegebenheiten an und analysiert die vorhandenen Strukturen – seien sie nun architektonischer oder symbolischer Natur –, um dann mittels ihrer Kunst einen Möglichkeitsraum zu öffnen. Nun wäre das wirkliche Öffnen von Räumen in einer Haftanstalt nichts, womit man von staatlicher Seite ausgeschriebene Wettbewerbe gewinnen könnte, doch die Arbeit „Hinterm Horizont“ ist prozessual gedacht und bezieht die zeitliche Dimension mit ein, denn das ist es ja, was Haft bedeutet: ein Begrenzen der Möglichkeiten auf eine bestimmte Zeit, ein geschlossener Kreislauf mit Besuchszeiten und einem Ende der Haft. Sitzt man selbst nicht ein, geht einem diese Definition freilich leicht über die Lippen. Während also der Horizont als abstraktes Phänomen nie erreichbar ist und man an dieser Erkenntnis verzweifeln könnte, so kann ein konkreter Punkt am Horizont – der Kamm einer Hügelkette etwa – selbstverständlich erreicht werden. Und man kann sogar über ihn hinausgehen. Das mag eine triviale Alltagserfahrung der freie Fahrt genießenden freien Bürger*innen sein, aber im Kittchen, beim Absitzen der Zeit, ein trostspendender Gedanke, dass es ein erreichbares Dahinter im Unerreichbaren gibt und ein Danach im Ozean der Zeit. Seit es Segel gibt, kann der Wind nicht anders als sie zu blähen und das, woran sie befestigt sind, anzutreiben. Und diese Triebkraft zapft auch Empfangshalle an und gibt den Anstoß für ein Perpetuum mobile der Kunst, das nicht nur die Betrachter*innen der Fotoinstallation in Bewegung versetzt: Die erzeugte und ins Netz eingespeiste Energie des Windrades wirft Rendite ab, deren Zweck es ist, Kulturangebote und -Workshops für die Gefangenen zu finanzieren. Das ist einerseits sinnvolle und sinnstiftende Zeit-Vertreibung statt sie bloß totzuschlagen – Sie sehen, das Konzept gibt schon hier im Text Antrieb zur verbalen Deeskalation –, andererseits sind diese Angebote auch tragende Mosaiksteine in der Brücke hin zur angestrebten Teilhabe in der Gesellschaft.
Die Bewerbung für diesen Kunst-am-Bau-Wettbewerb mit diesem ganzheitlichen und nachhaltigen Ansatz für die Insassen der JVA erfolgte noch im Atelier in der Arcisstraße, in der Nähe des Elisabethplatzes. Doch während für manche das Problem darin besteht, für längere Zeit an einem festen Ort verbleiben zu müssen, müssen andere einen Ort zwangsweise hinter sich lassen. Nach diversen Verlängerungen war für die große Ateliergemeinschaft rund um Empfangshalle 2013 endgültig Schluss im Umspannwerk der Stadtwerke München, das Böhm und Gruber auch zur Energiegewinnung durch Windkraft inspiriert hatte, da sie den Ort immer als elektrisierend bezeichnet haben. In der Zeit, als das Werk „Hinterm Horizont“ also in Berlin realisiert wurde, musste auch noch ein kräftezehrender Umzug in München gestemmt werden, bei dem wieder nur eine Zwischennutzung gefunden werden konnte und zudem noch die über Jahre gewachsenen Strukturen innerhalb der Kreativgemeinschaft zerstört wurden. Die meisten Künstler*innen konnten nämlich nicht mit in das neue Ateliergebäude in der Katharina-von-Bora-Straße ziehen. Das Adjektiv „neu“ bezeichnet dabei nur ein erneutes Anfangen in alten Gemäuern. Das Duo und einige wenige zogen in das ehemalige Heizkraftwerk, das während der NS-Zeit den Führerbau und den zentralen Verwaltungsbau der NSDAP in unmittelbarer Nähe des Königsplatzes mit Wärme versorgte. In diesem leerstehenden Gebäude standen zunächst nur mehrere Kellerräume zur Verfügung, und in den dunkeln, schlecht zugemauerten unterirdischen Gängen tummelten sich Ratten und Kakerlaken. Ideale Bedingungen also für einen oberirdischen Schwarzbau, um wenigstens bei Tageslicht, wenn schon nicht heizen, dann zumindest seine Arbeit machen zu können. Diese zurechtgezimmerte Behelfswerkstatt zwischen rückseitiger Hauswand und einer nahegelegenen Mauer war mit Balken und einer Plastikplane abgedeckt. Als ein Nachbar schließlich den Ratten mit Gift zu Leibe rückte, verkrochen sich die sterbenden Nager unerfreulicherweise unter den Holzboden dieser Werkstatt, von wo man sie mühsam entfernen musste.
Unter diesen Bedingungen künstlerisch zu arbeiten, kostet viel Energie, sodass Empfangshalle sich nicht nur im Laufe der Jahre weitere Räume in Absprache mit der Stadt erschloss, sondern auch viele Künstlerfeste feierte. Beides zog weitere Künstler*innen an, sich wieder zu einer Ateliergemeinschaft zusammenzuschließen, um so mehr Gewicht bei Verhandlungen zur Verlängerung oder Entfristung mit der Stadt zu generieren. Neben der eigenen Kunstproduktion entwickelte sich Empfangshalle also – um der Ateliernot etwas entgegenzusetzen – gezwungenermaßen auch zu einem Knotenpunkt sowie einer Anlaufstelle für Kunstschaffende aller Art, sodass am Ende 30 Kreative im Atelierhaus ihren Arbeitsort hatten. Unter anderem verbrachte das Kunstkollektiv „Haveit“ aus Pristina ihre Residency in den Ateliers von Empfangshalle. Daraus ergab sich auch eine Zusammenarbeit für das gemeinsame Videoprojekt „seeds of concept“, das im Rahmen der Projektreihe „MultipliCity“ der Landeshauptstadt München entstand. Überhaupt profitierte man wechselseitig von den neuen Einflüssen durch andere Kreative und die Künstler*innen der Ateliergemeinschaft konnten sowohl ihre jeweils eigenen als auch kollaborative Projekte mit Erfolg umsetzen.
Der intensive Austausch sowie das gegenseitige Inspirieren gehören für Empfangshalle ohnehin immer schon zu ihrer eignen künstlerischen Praxis als Duo, was sie auch stets in den Kreis der Ateliergemeinschaft hineintragen, aber auch einfordern. Das eigene künstlerische Movens muss andauernd am Glühen gehalten werden, um auch andere für die Kunst zu entflammen. Nach Joseph Beuys, mit dessen Konzept der Sozialen Plastik das Duo sich 2017 zum Erscheinen der dokumentarischen Filmbiografie „Beuys“ von Andres Veiel intensiv auseinandersetzte, ist ohnehin jeder Mensch ein Künstler. Jeder Mensch ist aber auch ein Sammler, dachte sich wohl Empfangshalle, als sie auf der großen Treppe der Pinakothek der Moderne und anderen Museen ihre Kunstaktion „Hundert Hemden“ inszenierte, wobei eigentlich von einer Kunstauktion als Anspielung auf die Soziale Plastik gesprochen werden muss. Das als ikonisch zu bezeichnende Outfit des Künstlers Joseph Beuys – auf unzähligen Fotos ist er mit einer Angler-Weste zu sehen – diente als Siebdruckvorlage für genau einhundert Hemden. Diese weißen Hemden mit dem Westen-Print wurden von Böhm und Gruber einzeln handkoloriert, nummeriert und signiert, wodurch sie alle Merkmale eines Kunstwerks aufwiesen. Gleichzeitig haben die Hemden ihre Funktion als Kleidungsstücke natürlich behalten, sodass die Träger*innen als Teil einer kunstinteressierten Gemeinde sowie als Fan von Joseph Beuys gelesen werden können, zumal in einem Museumskontext. Empfangshalle veranstaltete freilich keine gewöhnliche Kunstauktion mit den Hemden, wo der Höchstbietende automatisch den Zuschlag erhält, sondern die Hemden waren Mittelpunkt einer öffentlichen Tauschperformance: Die Anwesenden konnten für ein Hemd Tauschobjekte anbieten – ein Kleidungsstück musste notwendigerweise Teil des Angebots sein – und durch persönliche Geschichten zu den Objekten dem materiellen Wert einen ideellen hinzufügen, denn das Duo verhandelte individuell jedes einzelne Angebot, aber vor aller Augen und Ohren. Erst wenn Empfangshalle das Angebotene als gleichwertig zu ihrer künstlerischen Arbeit ansah, kam es zum Tausch. Die weitere Inszenierung sah vor, dass der Tauschgegenstand als Sockel fungieren sollte, auf dem der Person dann öffentlich das Hemd angezogen wurde. Gleichzeitig wurde dieser Sockel, bspw. eine auf einer Hochzeit getragene Weste samt goldener Uhr, mit Farbe bemalt, wonach die Tauschgegenstände zusammen mit der entsprechenden Geschichte in die Sammlung der Künstler übergingen. Mit dieser komplexen, anspielungsreichen Performance haben die Künstler nicht nur den Kunstmarkt mit seinen ganz eigenen Gesetzen von Angebot und Nachfrage kritisch verhandelt, sondern darüber hinaus auch die Frage nach dem aufgeworfen, was wir – der Einzelne, aber auch die Gesellschaft – für wertvoll erachten. Indem Empfangshalle nämlich die Verhandlung über den Wert bzw. Preis der Kunst in das Kunstwerk selbst mit einbezog, behielten sich Böhm und Gruber nämlich vor, auch die individuellen Möglichkeiten des Tauschinteressierten bei der „Preisfindung“ zu berücksichtigen.
Doch Empfangshalle blieb über die Jahre hinweg ihrem Konzept der Publikumspiraterie treu und verlegte ihre Performances und Installationen nicht vorwiegend in einen musealen Kontext. Mit der mehrteiligen Raum- und Videoinstallation „Waschgang“ von 2017 etwa, die die aktuelle Krise der Kirche in ein vielschichtiges Bild setzte, schrieben sie sich bildgewaltig in die Stadt ein. Konkret ging es darum, in der Öffentlichkeit schmutzige Wäsche zu waschen. Dafür sammelten Böhm und Gruber in der und rund um die Pfarrkirche St. Paul in der Nähe der Theresienwiese liegengelassene Wäsche von im Freien campierenden Tagelöhner*innen aus Osteuropa sowie in der Kirche vergessenen Kleidungstücke von Besucher*innen. Außerdem baten sie Pfarrer, Messdiener*innen sowie Gemeindemitglieder um Spenden von Alltagskleidung und Messgewändern. Der so gesammelte Wäscheberg repräsentierte also tatsächlich alle Menschen, die in der und rund um die Paulskirche leben und arbeiten, wobei der Verschmutzungsgrad noch Rückschlüsse über die ehemaligen Besitzer*innen zuließ.
In der Galerie der Deutschen Gesellschaft für christliche Kunst wurde diese Schmutzwäsche dann gewaschen und zum Trocknen aufgehängt – Soutane neben löchrigem Schlafsack neben Hotpants –, wobei die Wäschetrommel währenddessen gefilmt wurde. Dieses hypnotisierende Video wurde dann von außen auf das kreisrunde, mächtige Rosettenfenster über dem Westportal der Paulskirche projiziert, sodass erneut alle Passant*innen diese öffentliche Videoinstallation rezipieren konnten.
Die Art und Weise, wie Empfangshalle den Waschgang inszenierte, ließ das Erkennen vieler Verknüpfungen auf sehr unterschiedlichen Ebenen zu: Neben der zentralen Bedeutung des Konzepts der Reinheit bzw. Reinigung in allen religiösen Handlungen spielt das Bild der sich ewig drehenden Wäschetrommel unter anderem auch darauf an, dass die sozialen Hierarchien, so festgeschrieben gar nicht sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, wofür seit der Antike schon auch das Rad der Schicksalsgöttin Fortuna (griech. Tyche) steht. In diesem Bottich werden alle Stücke gleichbehandelt, der Schmutz wird im gegenseitigen Reiben aneinander von den Fasern gelöst und durchwirkt im Wasser doch auch alles Übrige, bis am Ende jedes Teil von seiner Geschichte und dem etwaigen sozialen Stigma gereinigt ist, zumindest oberflächlich. Die Löcher, die das Leben als Tagelöhner*in oder Bettler*in in den Stoff oder die Seele reißt sind natürlich nicht abwaschbar, wobei man eventuell im Jenseits auf Entschädigung für das erfahrene Leid im Diesseits hoffen darf. Und natürlich wird auch auf die oben erwähnte Metapher ironisch angespielt, da es in der langen Geschichte der Institution Kirche ja gerade die Geheimhaltung war, das Waschen sämtlicher Schmutzwäsche hinter ihren hohen Mauern, was Quell ihrer Macht war. Angesichts der stetig steigenden Zahl der Austritte stellt sich freilich die Frage, ob dem auch heute noch so ist.
Mit „Waschgang“ ist es Empfangshalle erneut gelungen, die Grenzen von Alltäglichem und Privatem sowie der Kunst und der öffentlichen, politischen und gesellschaftlichen Sphäre auf eine hintersinnige Weise zu verhandeln. Die eingesetzten Mittel zeichnen sich dabei durch eine ungekünstelte Konkretheit aus, die jedoch im künstlerischen Prozess kritisch, aber nicht ohne eine Prise Humor symbolisch aufgeladen werden.
Für Empfangshalle steht die Kunst immer im Mittelpunkt ihres Denkens und Handelns, wobei sie sich im Laufe der Jahre notgedrungen eben auch zu Aktivisten für niedrigschwellige und bezahlbare Räume für Kunst in der Stadt wandelten. Denn das Wertvollste für das Duo wäre es wohl gewesen, in München stabile Verhältnisse und ein entspanntes Verhältnis von Angebot und Nachfrage in Bezug auf Künstlerateliers vorzufinden, doch jede Zwischennutzung hat nun mal ein Ende. Für die Ateliergemeinschaft in der Katharina-von-Bora-Straße bedeutete dies, dass sie ab 2017 wieder zersprengt wurde, da nur wenige Künstler*innen Platz in den neuen Räumlichkeiten von Empfangshalle im Kreativquartier in der Schwere Reiter Straße 2 fanden. Nachdem der Umzug abgeschlossen worden war und man sich dort einigermaßen etabliert hatte, rückte auch schon schweres Gerät an und Teile der Werkstätten wurden wegen angeblich dringender Arbeiten am Fernwärmenetz abgerissen. Dann passierte zunächst einmal und bis heute eigentlich nichts, außer dass weniger Atelierräume als geplant zur Verfügung standen. Da Böhm und Gruber jedoch inzwischen Experten sind im Zwischennutzen und daher auch im Improvisieren, konnten sie auf dem Areal für die erneut wachsende Ateliergemeinschaft aus über 50 Künstler*innen eine ca. 300 m2 große Werkhalle samt für alle nutzbare Holzwerkstatt sowie ein Kunstlager anmieten.
Um das vielfältige Schaffen in den verschiedenen Räumen auch der Öffentlichkeit präsentieren zu können, hat Empfangshalle 2018 noch einen kleinen Ausstellungsraum in der Theresienstraße eröffnet. Dort kuratiert Maria Justus Projekte in Kooperation mit den Künstler*innen aus der Ateliergemeinschaft sowie dem internationalen Netzwerk von Empfangshalle. Besonders hervorzuheben ist dabei die Kampagne „Exist!“, deren zentrales Anliegen es war durch Ausstellungen, Performances und Kunstinterventionen auf die immer weiter um sich greifende Verdrängung von Kunstschaffenden aus der Stadt München hinzuweisen, in der es kaum noch leistbare Atelier- und Ausstellungsräume gibt.
Um diesem bedauernswerten Umstand entgegenzuwirken, unternahm das Künstlerduo auch ihre jüngste, rein privatwirtschaftliche Anstrengung, nämlich die Anmietung einer ehemaligen Druckerei in der Gabelsbergerstraße. Damit versuchen Böhm und Gruber nicht nur die Raumverluste im Kreativquartier zu kompensieren, sondern auch eine langfristige Perspektive für bis zu 13 junge Künstler*innen in München zu schaffen, da es sie hierbei erstmals nicht um eine Zwischennutzung handelt.
Immer schon begriff Empfangshalle Kunst als Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen, und so war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis das Duo in einer der wechselnden Ateliergemeinschaften die Idee der Künstlerspeisung etablierte. Einzelne aus der Gemeinschaft oder auch darüber hinaus kochen für ausgewählte Gäste einen Mittagstisch und im Anschluss daran präsentieren sie die eigene künstlerische Arbeit. Dabei geht es nicht ums Verkaufen, sondern um den offenen Austausch von Ideen und um das Erkennen gemeinsamer Interessen und ähnlicher Zugänge zu Kunst im Kollektiv. In der Rathausgalerie finden Sie in der großen Tafel diese Idee ins Bild gesetzt. Nur zu, setzen Sie sich – Empfangshalle empfängt sie gerne!

Text: Markus Ostermair