3 Sekunden
Auf den Rampen bei der Hackerbrücke München, 1999
3-Sekunden-Skulpturen für die vorbeifahrenden S-Bahn Passanten
Eine S-Bahn-Fahrt vom Hauptbahnhof Richtung Pasing. Der Zug beschleunigt hinter der Hackerbrücke. Rechts am Fenster flache Hallen. Zwei Männer davor auf einer Rampe. Sie rennen aufeinander zu, doch anstatt zusammenzuprallen, kreuzen sie sich im vollen Sprint, ohne einander zu beachten. Die S-Bahn bringt das Publikum für die Skulpturen DREI-SEKUNDEN von Michael Gruber und Corbinian Böhm, die seit einem Jahr auf der Rampe vor ihrem Atelier solche Szenen aufführen. Die Idee ergab sich zwangsläufig: auch ohne diese Auftritte hatten die Bildhauer, die sich als Duo EMPFANGSHALLE nennen, ein Publikum durch die beiläufig aus dem Zugfenster schauenden Fahrgäste, denn die S-Bahn fährt direkt am Atelier vorbei. Was lag näher, als dieses Potential zu nutzen? Wie die klassische Skulptur im öffentlichen Raum ist die szenisch inszenierte, von Böhm und Gruber gespielte DREI-SEKUNDEN einem zufälligen Publikum ausgesetzt. Dieses kann allerdings nicht verweilen; es wird vorbeigefahren, und so operieren die Szenen mit dieser Flüchtigkeit und dauern jene ca. drei Sekunden, in denen die Sentenzen vom Zugfenster aus zu sehen sind. Warum aber sind sie Skulpturen? Die Arbeit mit dem Augenblick erfordert eine Konzentration auf den Kulminationspunkt einer Handlung. Was von EMPFANGSHALLE gezeigt wird, muß wie in der klassischen Skulptur die Form einerseits zuspitzen auf den dramatischen Moment, andererseits offen sein für die gedanklichen Ansätze des Betrachters. Die minimale Ausdehnung der gefrorenen Zeit einer statischen Skulptur, das daraus entstehende kleine Spiel, trifft sich mit der beschleunigten Dynamik der Betrachter selbst. Dabei platzt das Rätselhafte in den Alltag der Fahrgäste, die zu den Bildern eigene Geschichten entwickeln sollen; manchmal passiert das mit einer kriminalistischen Vehemenz, die schon zum Besuch von Polizeistreifen führte. Denn die uneindeutigen, aber zugespitzten Inhalte der verschiedenen Szenen lassen schon mal scheinbar leblose Körper an der Rampe liegen oder Vermummte mit waffenähnlichen Gegenständen hantieren. Der ironische Aspekt spielt nicht nur bei solchen Aneignungen imaginärer Filmmotive eine Rolle. Zusammen mit anderen Arbeiten gehören die DREI-SEKUNDEN zum Projekt PLAY, das spielerische Eingriffe in den öffentlichen Raum, interaktiven Einbezug des Publikums realisiert. Aus der spontanen Idee hat sich ein mit Video dokumentiertes vielfältiges Werk entwickelt, dass zu angekündigten Zeiten aufgeführt wird.
Jochen Meister